Ein Ungleichgewicht im öffentlichen Raum wird in Schöneberg besonders deutlich: Während wertvoller Platz für parkende Autos reserviert wird, kämpfen Radfahrer um sichere Abstellmöglichkeiten und Fußgänger um den Zugang zum Bürgersteig.
Rund um den beliebten Winterfeldtplatz in Berlin-Schöneberg herrscht chronischer Mangel an Fahrradabstellmöglichkeiten. Die wenigen vorhandenen Fahrradbügel sind oft überfüllt oder, wie aktuell geschehen, durch Baumaßnahmen schwer zugänglich. Dieses Defizit zwingt viele Radfahrer, ihre Fahrräder notgedrungen auf dem Bürgersteig abzustellen, was zu einer weiteren Verengung der oft ohnehin schon schmalen Gehwege führt.
Doch das Problem hat eine tiefere Dimension, die sich am Beispiel zweier Auto-Parkbuchten vor den Hausnummern Winterfeldtstraße 36/38 manifestiert.
🚗 Platzverhältnisse und das Sicherheitsrisiko
Hier, wie an vielen Stellen in der Umgebung, stehen oft sehr breite Autos direkt am Bürgersteig. Diese Situation führt dazu, dass straßenüberquerende Fußgänger – insbesondere gehbehinderte Personen, Rollator-Nutzer oder Eltern mit Kinderwagen – kaum oder gar keinen Platz haben, um vom Niveau der Straße auf den Bürgersteig zu gelangen. Sie sind gezwungen, sich an den breiten Fahrzeugen vorbeizuquetschen oder einen gefährlichen Umweg in Kauf zu nehmen.
Ein Anwohner hat diesen Missstand in einer Korrespondenz mit dem Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg kritisiert und die Installation von Fahrradbügeln auf den beiden PKW-Parkplätzen vorm Haus Winterfeldtstraße 38 beantragt. Die Idee: Ein geringerer Platzbedarf pro Verkehrsteilnehmer und eine Entschärfung der gefährlichen Engstelle. Sechs Fahrradbügel auf der Fläche zweier Parkbuchten würden Platz für zwölf Fahrräder schaffen und somit die Nutzung der knappen Fläche um 50% erhöhen sowie Platz für Fußgänger zum Bürgersteig schaffen.
🛑 Die Ablehnung und ihre Begründung
Das Bezirksamt lehnte den Antrag ab. Die Argumentation stützte sich auf drei Hauptpunkte, in einem detaillierten Widerspruch dargestellt:
- Begrenzte finanzielle Ressourcen: Das Bezirksamt verweist auf die knappen, vom Senat bereitgestellten Mittel und die sukzessive Kürzung im Zuge von Haushaltseinsparungen. Eine klare Auskunft, welche Mittel in den letzten 24 Monaten wo in Schöneberg eingesetzt wurden, blieb jedoch aus.
- Abstellmöglichkeiten am und auf dem Winterfeldtplatz: Das Bezirksamt argumentiert, der Platz sei in „unter 2 Minuten“ erreichbar und biete ausreichende, sichere Abstellmöglichkeiten. Der Anwohner hält dagegen: Die wenigen und unzureichenden Bügel sind an Markttagen kaum zugänglich und derzeit durch Baumaßnahmen versperrt oder schwer erreichbar. Für Fußgänger ist dieser Weg auf der Straße unfallgefährend.
- Zumutbare Wege für Fußgänger: Das Bezirksamt hält einen Fußweg von ca. 60 Metern auf der Straße bis zur nächsten sicheren Querungsstelle für „ausreichend gering“.
Hintergründe
Anwohner werfen dem Bezirksamt vor, das Argument der Zumutbarkeit selektiv anzuwenden: „Ihr Argument verwenden sie nur für Fußgänger, darunter Behinderte, Rollstuhlfahrer und Erziehende mit Kinderwägen.“ Betroffene verweisen darauf, dass die gleichen 60 Meter auch den wenigen Autofahrern (maximal acht Insassen bei zwei Parkplätzen) zugemutet werden könnten, die in der Regel mehrere Stunden parken.
In dieser Zeit können Fußgänger nicht sicher auf den Bürgersteig gelangen. Ein Fahrradfahrer dokumentierte einen Test, bei dem Fahrräder gesetzeskonform auf einer Parkbucht abgestellt wurden: Innerhalb von 90 Minuten nutzten rund 30 Personen diesen freigewordenen Weg von der Straße auf den Bürgersteig. Das Fazit: Die Umwidmung der AutoParkplätze in Fahrrad„Parkplätze“ wäre ein probates Mittel, um diese gefährliche Situation zu beenden.
Das Bezirksamt bestreitet, dass es sich bei der Ablehnung um einen anfechtbaren „Verwaltungsakt“ handelt, da dieser nicht zu Lasten des Anwohners erfolge. Es unterstreicht zusätzlich, dass es keinen Rechtsanspruch auf eine Fahrradabstellanlage an einer bestimmten Stelle gibt, ebenso wenig wie auf einen PKW-Parkplatz.
Die Korrespondenz legt ein dringendes Problem im Umgang mit knappen urbanen Flächen offen. Solange finanzielle Mittel für die Radverkehrsinfrastruktur gekürzt werden und der Verweis auf „entfernte“ Abstellmöglichkeiten Vorrang vor der akuten Beseitigung von Gefahrenstellen für die schwächsten Verkehrsteilnehmer hat, bleibt der Kampf um den Bürgersteig rund um den Winterfeldtplatz ungelöst.
🚗 Das Hauptproblem: Übermacht des motorisierten Verkehrs im öffentlichen Raum
Das größte Hindernis für eine gerechtere Verteilung des öffentlichen Raumes ist der stehende und fahrende Verkehr. Die Zahl der zugelassenen Fahrzeuge in Deutschland – aktuell fast 65 Millionen, Tendenz steigend – führt besonders in verdichteten Städten zu einer kontinuierlichen Zunahme der Enge auf Straßen und an Straßenrändern.
Wolfgang Aichinger, Leiter des Thinktanks „Agora Verkehrswende“, beschreibt die fatalen Folgen dieser Entwicklung:
„Heute ist es oft so, dass Rettungsdienste und Müllfahrzeuge durch Falschparken behindert werden. Die Praxis ist erschreckend lasch: Verstöße werden kaum geahndet. Man kapituliert vor der jährlich wachsenden Zahl von Fahrzeugen und scheut sich, klarzustellen, dass der Straßenraum nicht alle aufnehmen kann. Zudem wird einfach geduldet, was rechtlich nicht legal ist.“
📜 Überholte Gesetze verschärfen die Krise
Diese Kapitulation hat nicht nur aggressive Stimmung im öffentlichen Raum zur Folge, sondern wird durch veraltete Gesetze verschärft.
Die prioritäre Stellung des Autoverkehrs hat historische Wurzeln: Beim Wiederaufbau nach dem Krieg wurde der motorisierte Verkehr als die wichtigste Funktion im öffentlichen Raum definiert und alles andere – Fußgänger, Radfahrer – dem untergeordnet. Das Hauptziel war die schnelle und zügige Fortbewegung mit dem Auto.
Die aktuelle Straßenverkehrsordnung (StVO), deren Grundgerüst auf das Jahr 1934 zurückgeht, manifestiert diese Priorität auch heute noch: Obwohl sie mehrfach angepasst wurde, ist der motorisierte Verkehr anderen Bedürfnissen weiterhin übergeordnet. Dies zeigt sich in der Sprache der StVO, die Fußgänger und Radfahrer klar unterordnet (z. B. müssen Fußgänger die Fahrbahn „zügig auf dem kürzesten Weg“ überqueren und Radfahrer „einzeln hintereinanderfahren“). Dass das in der Winterfeldtstraße gar nicht geht, war in fossilen Oldtimer-Zeiten kaum vorstellbar.
Hyperlinks zum Thema:
- https://www.spd-tempelhof-schoeneberg.de/meldungen/spd-fraktion-setzt-sich-fuer-neuordnung-der-fahrradbuegel-am-winterfeldtplatz-ein/
- Begegnungszone Maaßenstraße. Vorher-Nachher-Untersuchung. Modellprojekt 5 der Fußverkehrsstrategie Berlin
- Könige der Begegnungszone – die Schöneberger Maaßenstraße muss man feiern
- https://checkpoint.tagesspiegel.de/langmeldung/6VXuWMfpDV4CRQ7o2EEtVs
